Als großer Erfolg endete am 14. November 2017 die 9. Ausgabe von „Literatur Jetzt!“, dem Festival zeitgenössischer Literatur in Dresden. Seit dem 4. November hatten sich unter dem Motto „Kunst!“ mehr als 30 Autorinnen und Autoren und weitere Künstlerinnen und Künstler aus Bildender Kunst und Musik bei insgesamt 15 Veranstaltungen einem bunt gemischten Publikum präsentiert. Insgesamt etwa 4000 Gäste konnte das Festival begrüßen – so viele wie noch nie zuvor. Gefördert wurde das Literaturfest wie schon in den vergangenen Jahren von der Kulturstiftung des Freistaates Sachsen, der Landeshauptstadt Dresden und der Kulturstiftung Dresden der Dresdner Bank. Thematisch widmete sich „Literatur Jetzt!“ im Jahr 2017 in Kooperation mit den Staatlichen Kunstsammlungen Dresden dem Zusammenspiel von Literatur und Bildender Kunst und den Grenzgängern zwischen diesen beiden Feldern.
Nach vielen Monaten der Vorbereitung und tagelangen Aufbauarbeiten eröffneten wir am 4. November 2017 die neunte Auflage unseres Festivals mit der Eröffnung der Ausstellung „Bilder eine großen Liebe – Der Maler Wolfgang Herrndorf“. Die Kuratorin Ulrike Pennewitz hatte aus dem Nachlass eine Auswahl von etwa 60 Bildern zusammengestellt – Beispiele für eine Doppelbegabung in Text und Bild, wie es sie nur sehr selten gibt. Über 500 Besucher fanden den Weg ins Japanische Palais, was selbst die kühnsten Erwartungen weit übertraf. Nach kurzen Begrüßungen durch Dirk Burghardt (Kaufmännischer Direktor der Staatliche Kunstsammlungen) und Helge Pfannenschmidt (Literatur Jetzt!) lieferte der ehemalige Titanic-Chefredakteur Oliver Maria Schmitt eine pointierte und sehr persönliche Laudatio auf Wolfgang Herrndorf, bevor Lars Rüppel vom Staatsschauspiel Dresden einen Auszug aus der Erzählung „Der Weg des Soldaten“ las. Ein vielversprechender Auftakt für die Ausstellung, die danach im Laufe von nur zehn Tagen etwa 2000 Besucher anziehen sollte.
Am 5. November lasen zum literarischen Auftakt des Festivals nach der Ausstellungseröffnung am Tag zuvor zwei Autorinnen aus ihren Büchern, die auf den ersten Blick wenig gemeinsam haben. Und doch verbindet sie die Suche nach dem Freiraum, die Lust aufzubrechen, die Sehnsucht nach einem Leben mit der Kunst und Hindernisse, die sich einem, der auszieht, auftun. Jutta Voigt, heute 76, ist als junge Frau in der DDR aufgebrochen. Sie wurde Journalistin, arbeitete für die „Wochenpost“, den „Sonntag“, später für die Wochenzeitung „Die Zeit“. Es gibt von ihr eine Trilogie über ostdeutsche Befindlichkeiten, aus deren drittem Band, „Stierblutjahre – Die Boheme des Ostens“ sie im Japanischen Palais las. Die Zuhörer tauchten ein in die rauschenden Feste der Ostboheme und erlebten die obligatorischen Abstürze ihrer Protagonisten in Tristesse und Alkoholkonsum.
Die gerade dreißigjährige Schriftstellerin Theresia Enzensberger las im Anschluss an die Lesung von Jutta Voigt aus ihrem Debütroman „Blaupause“, der die Leser ans Bauhaus nach Weimar und Dessau führt. Es geht in dem Buch um eine junge Frau, die gegen den Willen ihres Vaters Architektin werden will, ans Bauhaus geht und dort mit männlicher Machtausübung konfrontiert wird. Beide Lesungen wurden sachkundig und einfühlsam moderiert von Karin Großmann, Literaturkritikerin der „Sächsischen Zeitung“, einem der Medienpartner unseres Festivals.
Am 7. November präsentierte der Kunstwissenschaftler Wolfgang Ullrich in einem Vortrag die provokanten Thesen seines Buches „Siegerkunst“. Der ehemalige Professor an der Hochschule für Gestaltung Karlsruhe und freie Publizist schilderte die Entstehung einer ganz neuen Art von zeitgenössischer Kunst, die sich – völlig anders als die Kunst der Avantgarde – offen und selbstbewusst als Statussymbol und Wertanlage für die Reichen und Mächtigen anbietet. Auch die Siegerkünstler selbst entsprechen nicht mehr dem traditionellen Künstlerbild des oppositionellen Geistes und verkannten Genies, sondern inszenieren sich als erfolgreiche Unternehmer und Teil der besseren Gesellschaft. In der Diskussion mit dem Publikum erörterte Ullrich abschließend, wie diese Entwicklungen auch die Kunstkritik und den Museumsbetrieb umwälzen und möglicherweise sogar den überkommenen Kunstbegriff auflösen werden.
Ebenfalls am 7. November im Japanischen Palais folgte gleich im Anschluss an Wolfgang Ullrichs Vortrag zur „Siegerkunst“ das Kontrastprogramm: Die Comicfigur „The Artist“ von Anna Haifisch ist ein ganz klassischer Verliererkünstler, voller Selbstzweifel und ohne Geld, mit gehemmter Produktivität, am Unverständnis der Umwelt leidend. Die Künstlerin präsentierte den tragikomischen Helden ihrer erfolgreichen Comicreihe in einer Bilderschau mit Lesung und Klanguntermalung. Passend unprätentiös unterbrach sie die Lesung immer wieder durch Anekdoten aus dem eigenen, oft ebenfalls prekären Künstlerleben. Wie schon bei Wolfgang Ullrich verfolgten etwa 50 Gäste die Lesung.
Mit Florian Illies konnten wir am 8. November im Lichthof des Albertinums einen Autor bei unserem Festival begrüßen, der so begeistert und begeisternd wie kaum ein anderer über Kunst schreibt. Im Gespräch mit Marcel Beyer – einem ausgewiesener Kenner der Moderne – stellte er seinen neuen Band vor: eine Auswahl von Texte zur bildenden Kunst aus mehr als 20 Jahren. Sichtliche Freude bereiteten den Zuhörern vor allem die mit viel Esprit geführten, weit ausgreifenden Gespräche zwischen den beiden Protagnisten: darüber, wie jede Generation die Kunst früherer Epochen neu für sich entdeckt und bewertet, über den ganz besonderen Reiz von Ölstudien des 19. Jahrhunderts und Wolken als Metaphern der Flüchtigkeit. Abschließend konnten die etwa hundert Besucher noch einen exklusiven Blick auf einige Bilder aus dem Depot der SKD werfen, die im Laufe des Gesprächs eine Rolle gespielt hatten.
Zur „Bilder! Gedichte! Nacht der Poesie“ kamen am 8. November etwa 50 Besucher ins Japanische Palais, um den Lyrikern Anja Kampmann, Nancy Hünger, Klaus Merz und Hans Thill zu lauschen, die von Mark Weschenfelder an Saxophon und „Flüstertüten“ begleitet wurden. Der bekannte Schweizer Autor Klaus Merz las zunächst einen Text aus seinem Buch „Das Gedächtnis der Bilder“, der Aufsätze zur Malerei und Fotografie versammelt und danach Gedichte, welche sich sämtlich auf das Motto des diesjährigen Festivals, „Kunst!“, bezogen. Anja Kampmann interpretierte in ihrer Lesung das Festivalmotto freier, sie las Gedichte über das Meer, über den von der Stasi bespitzelten DDR-Schriftsteller Franz Fühmann und über Wolken. Hans Thill stellte dem Publikum sein „Buch der Dörfer“ vor, ein wildes Kovolut über wirkliche und erfundene Dörfer. Der Abend endete mit einer Lesung der Dichterin Nancy Hünger, die Gedichte aus ihrem neuen Band „Ein wenig Musik zum Abschied wäre trotzdem nett“ vortrug, deren Klanglichkeit und Sprachtrance vom Publikum mit Begeisterung aufgenommen wurden.
Am 9. November präsentierte die Dresdner Lesebühne Sax Royal im Rahmen des Festivals eine Spezial-Ausgabe zum Thema Kunst. Die fünf Stammautoren Michael Bittner, Julius Fischer, Roman Israel, Max Rademann und Stefan Seyfarth, die seit fast 13 Jahren jeden Monat in der Scheune ihr Publikum mit Geschichten, Gedichten und Liedern erfreuen, hatten sich zu diesem besonderen Anlass auch Besonderes einfallen lassen. Nicht nur widmeten sich die meisten Texte den persönlichen Erfahrungen der Autoren mit der Kunst, Max Rademann zeigte als eigenen künstlerischen Beitrag auch einige seiner Cartoons auf der Leinwand. Roman Israel nutzte die Gelegenheit, seinen soeben im Luftschacht Verlag erschienenen Roman „Flugobst“ dem Publikum vorzustellen. Etwa 150 Gäste erlebten den durchweg heiteren Abend.
Am 10. November gastierten zwei der populärsten Cartoonisten des Landes beim Festival: OL & Rattelschneck. Erstmals in Dresden zeigten sie vor mehr als 50 Gästen im OstPol ihre Dia-Live-Cartoon-Show, die einen Querschnitt aus dem komischen Werk der beiden Künstler vor Augen führt. In der ersten Hälfte der Show verrichtete der Projektor seine Arbeit teilweise nur flackernd, was aber weder den Künstlern noch den Zuschauern die Laune verderben konnte. Zu lustig waren die gezeigten Episoden aus dem Leben von mittlerweile legendären Comic-Figuren wie den „Müttern vom Kollwitzplatz“, „Cosmoprolet“, „Stulli, dem Pausenbrot“ oder „Donkey-Schotte“. Immer wieder erzählten Olaf Schwarzbach (OL) und Marcus Weimer (Rattelschneck) auch von schönen und seltsamen Augenblicken in ihrer langjährigen künstlerischen Laufbahn – ganz zur Freude der Gäste, welche die beiden Cartoonisten erst nach einer Zugabe an den Tresen entließen.
Am 11. November präsentierte der Dresdner Schriftsteller Ralf Günther seine historische Sommernovelle „Die Badende von Moritzburg“ über eine junge Frau, die in den Kreis der Maler der Dresdner Künstlergruppe „Die Brücke“ gelangt. Charmant begleitet wurde er dabei von der Autorin und Musikerin Josefine Gottwald an der Akustikgitarre, welche Lieder sang, in denen es ebenso um freies Leben und Lieben ging wie in den im Buch beschriebenen Kreisen der künstlerischen Avantgarde.
Die zweite Veranstaltung am 11. November im Japanischen Palais war der Livelyrix Poetry Slam, der traditionell bei keiner Ausgabe des Festivals „Literatur Jetzt!“ fehlt. Beim modernen Dichterwettkampf kämpften diesmal die Poetinnen und Poeten Leonie Warnke (Leipzig), Kaddi Cutz (Dresden), Malte Rosskopf (Leipzig), Karsten Lampe (Berlin) und Christian Ritter (Berlin) mit Geschichten und Gedichten zum Thema Kunst um die Gunst des Publikums. Mehr als 200 Zuschauer verfolgten das Geschehen. Leonie Warnke widmete sich literarisch dem zweifelhaften Glück des Starruhms und besuchte ein Museum für moderne Kunst. Kaddi Cutz dachte über fragwürdige Phänomene der Kultur wie Mario Barth nach. Malte Rosskopf verglich in einem Auktionsdialog verschiedene Formen von Bildern. Christian Ritter wiederum ließ die verschiedenen Künste gleich in einem sportlichen Wettkampf gegeneinander antreten. Und Karten Lampe stellte sich in seinen Texten die Fragen, die ihm auch von Zuhörern am häufigsten gestellt werden: Kann man davon leben? Und woher nehmen sie nur ihre Ideen? Das Publikum im Foyer des Japanischen Palais kürte am Ende per Applaus Malte Rosskopf zum Sieger.
Wie im vergangenen Jahr gehörte der Sonntagnachmittag (12. November) den jüngeren Buchliebhabern. Mit Nadia Budde konnten wir eine der derzeit beliebtesten Kinderbuchautorinnen und -illustratorinnen für unser Festival gewinnen. Mehr als 80 kleine und große Besucher zwischen 2 und 60 Jahren fanden den Weg ins Japanische Palais. Wie gut sie Bücher wie „Eins zwei drei Tier“ oder „Flosse, Fell und Federbett“ kannten, sollte sich im Verlauf der Mitmach-Lesung zeigen. Viele konnten ganze Passagen auswendig. Wer auch danach noch Lust auf Reime und kauzig-kuriose Tiere hatte, konnte zum Workshop bleiben. Nadia Budde stiftete die Teilnehmer an, sich selbst Reimgeschichten auszudenken und eigene Tiere zu erfinden – nach dem Vorbild der Katzen, die an Matratzen kratzen, den gähnenden Hyänen oder dem Bieber mit Fieber. Ein monstermäßiger Spaß!
Dass Anne Munka und ihr Klangkollektiv immer für eine Überraschung gut sind, hatten sie bereits mehrfach bewiesen, auch im Rahmen unseres Festivals. Das Format „Lyrik ist Happening“ am Abend des 12. November hätte diesmal eigentlich „Hörspiel ist Happening“ heißen müssen – denn im Mittelpunkt des Abends stand eine Text des Autors und Hörspielmachers Kai Grehn. Dieser wurde nicht nur gelesen, sondern auch szenisch eindrucksvoll umgesetzt. Ebenfalls zu Gast war die Lyrikerin und Choreographin Tabea Xenia Magyar. Das Publikum durchlief – im Wortsinn – mehrere Stationen, vom Basiscamp bis zum Tourenziel. Dabei wurde der gesamte Saal genutzt. Einige Besucher wurden auch spontan eingebunden: als Sprecher, Geräuschemacher und Sängerinnen. Es waren spannende, intensive 90 Minuten Höhenrauschen.
Der Rahmen für den Abschluss unseres Festivals hätte nicht beeindruckender ausfallen können: Etwa 750 Besucher füllten den ausverkauften großen Saal des Schauspielhauses, um Sandra Hüller in einer von Robert Koall erarbeiteten Bühnenfassung des Fragment gebliebenen Herrndorf-Romans „Bilder deiner großen Liebe“ zu sehen. Mit ihrer in jeder Hinsicht freien, ebenso einfühlsamen wie temperamentvollen Interpretation der Isa-Figur lockte Sandra Hüller ein zunächst schüchternes Publikum zunehmend aus der Reserve: Sechs Mal mussten die Protagonisten des Abends nach Ende des Stücks zurück auf die Bühne und wurden begeistert gefeiert. Besonders im Gedächtnis bleiben wird das unvermittelte Umschlagen von Flüstern in Schreien: von leisen, poetischen Momenten in überdrehte, im schönsten Sinne komische Temperamentsausbrüche. Musikalisch begleitet wurde Sandra Hüller von Sandro Tajouri und Moritz Bossmann.
Alle Fotos in diesem Rückblick: Peter R. Fischer Photographie