Ein wenig Bammel hatten wir schon vor unserem Literaturfest, als wir die vielen Klagen darüber hörten, in der Kultur bleibe ein großer Teil des Publikums wegen der aktuellen Krise fern. Wir sind froh, dass die 14. Ausgabe unseres Festivals Literatur JETZT! vom 21. bis 25. September 2022 im Zentralwerk in Dresden-Pieschen dennoch ein großer Erfolg geworden ist. Etwa 1100 Besucherinnen und Besucher kamen an fünf Tagen zu uns, um zwanzig Veranstaltungen mit etwa 40 Mitwirkenden zu erleben. Wir danken herzlich nicht nur diesen Gästen, sondern auch den Autorinnen und Autoren und den Förderern, die alles erst möglich gemacht haben: der Kulturstiftung des Freistaates Sachsen und der Landeshauptstadt Dresden, Amt für Kultur und Denkmalschutz, sowie „Neustart Literatur“ des Deutschen Literaturfonds im Rahmen des Programms „Neustart Kultur“ der Bundesregierung.
Der Autor, Musiker und Theatermacher Rainald Grebe sorgte am Mittwoch (21. September) für einen so fulminanten wie herzanrührenden Auftakt unseres Festivals. Er las nicht nur aus seinem autobiografischen Buch „Rheinland Grapefruit“, sondern sang, zeigte Bilder und erzählte von seiner schweren Krankheit und von der Freude am Weiterleben. Danach wussten alle 300 Gäste: Das Leben ist kostbar und will in jeder Minute gelebt werden! Danke, Rainald, für einen Abend zwischen zarter Poesie, sattem Lebenshumor und schonungsloser Offenheit! Danke auch an DJ Marcel Beyer für die atmosphärische After-Show.
Ein rundum gelungener Donnerstag (22. September) war’s bei unserem Festival: Los ging es mit dem lyrischen Rundgang „Zentralwerk der Poesie“ mit Gedichten von Dominik Dombrowski, Maren Kames und Juliane Liebert. Es folgte Karen Duve im Gespräch mit Julia Hemmerling über die unkonventionelle Kaiserin „Sisi“. Die Gäste erfuhren unter anderem, dass Sisi eine der besten Reiterinnen ihrer Zeit war, zudem eine selbstbewusste und doch in den Zwängen des Hoflebens unglückliche Frau. Helene Hegemann las anschließend aus „Schlachtensee“, einem Band mit stimmungsvollen Erzählungen, und unterhielt sich mit der Literaturkritikerin Miriam Zeh. Ein bisschen frisch, aber auch sehr heiter war’s schließlich zu später Stunde bei unserem Late Night Talk „Spätschicht“ mit Yasmine M’Barek und Cornelius Pollmer. Die beiden besprachen in schneller Folge die zehn drängendsten Gegenwartsprobleme, sogar den Bürzel von Friedrich Merz.
Und das passierte am Freitag (23. September) bei unserem Festival: Es ging los mit Isabel Bogdan, deren Roman „Laufen“ von einer Frau erzählt, die nach dem Verlust eines Menschen laufend wieder zu sich selbst findet. Im Gespräch mit Moderator Anselm Neft gab es trotz dem schweren Thema auch heitere Momente. Satirisch ging es gleichzeitig auswärts im Blechschloss der Scheune Dresden zu, wo Thomas Gsella seinen Gedichtband „Ich zahl’s euch reim“ präsentierte. Und vollends lustig wurde es dann zu späterer Stunde bei unserer Pop und Poesie-Show mit Falk Töpfer und Nicole „Neitschl“ Hoyer. Die gut aufgelegten Gäste Schorsch Kamerun, Resi Reiner und Christiane Rösinger plauderten über ihre Art des Textens, ließen sich zu Gesangseinlagen überreden und hielten sowohl harten Getränken als auch kniffligen Fragen stand.
Der Sonnabend (24. September) bei unserem Festival: Unter dem Titel „Care – Fürsorge zwischen Zuwendung und Zumutung“ trafen sich zunächst Gabriele von Arnim und David Gutensohn zum Gespräch, moderiert von Jörg Sundermeier. „Das Leben ist ein vorübergehender Zustand“ heißt das aktuelle Buch von Gabriele von Arnim – was für eine Geschichte, was für eine Person! Sie sagte, sie wolle sich trennen, nach jahrzehntelanger Ehe, doch ihr Mann erleidet am Abend einen Schlaganfall. Es folgen weitere, in deren Folge der Journalist seine Sprache und seine Bewegungsfähigkeit verliert. Doch der schlaue Kopf bleibt an und so lernen sie sich neu kennen und sie ihn noch einmal neu lieben. Irgendwie zumindest, denn sie wird ihn zehn Jahre zu Hause pflegen, um ihn so würdevoll wie möglich in seinen Tod zu begleiten. Der Journalist David Gutensohn, Kind von beruflich Pflegenden, erzählt davon, wie marode das deutsche Pflegesystem ist. Er ist sich sicher, dass uns nur eine große Revolution davor bewahren kann, dass uns die sogenannten Care-Arbeiter ausgehen, weglaufen, ausbrennen. Zudem müssten Menschen, die selber pflegen, wie Frau von Arnim, viel stärker unterstützt werden, denn so viele Arbeitskräfte, wie wir perspektivisch benötigen, können wir gar nicht finden.
Im folgenden Gespräch zwischen Katharina Warda und den beiden Autor*innen Dilek Güngör und Paul Bokowski unter dem Titel „Herkunft & Zukunft“ ging es um Leerstellen, die unterschiedlich leer sein können. Hatte Warda praktisch keinen Vater und damit auch keine südafrikanischen Wurzeln, die ihr aufgrund ihres Äußeren aber permament von außen zugeschrieben wurden, vermisste Bokowski die polnische Sprache, die in seiner aus Schlesien nach Westdeutschland emigrierten Familie als unzureichend galt und die er sich nun im Volkshochschulkurs wieder antrainiert. Bei Güngör ist es eine gleich komplett fehlende Sprache, die ihren autofiktionalen Roman „Vater und ich“ durchzieht. Eine funktionierende Vater-Tochter-Beziehung versandet scheinbar grundlos mit dem Älterwerden der Protagonistin, sie studiert Sprachen und wird Journalistin und schafft es dennoch nicht, nicht mehr, eine gemeinsame Sprache mit ihrem Vater zu sprechen.
Beeindruckend danach auch die Lesung und das sich daraus entwickelnde Gespräch zwischen Tanja Maljartschuk und Irina Bondas über den vergessenen ukrainischen Unabhängigkeitskämpfer Wjatscheslaw Lypynskyi, der 1919 vor den Bolschewiki ins Wiener Exil fliehen musste. Die Autorin Maljartschuk verknüpfte diese Biografie mit der von Angst bestimmten Lebensgeschichte ihrer Erzählerin.
Zur Auflockerung gab’s zwischendrin den Reporter Slam, in dem wieder fünf Journalist*innen (Christian Gesellmann, Anna Hoffmeister, Denise Peikert, Cornelius Pollmer und Carolin Würfel) mit ihren Recherchen gegeneinander antraten. Wir hörten von einem der produktivsten Eber in der industriellen Schweinezucht, von Tankstellen, wo nicht nur getankt wird, von einem Leipziger Stadtmagazin, dass sich mit einem Biomarkt anlegte, von spontanen Luftsprüngen und der individuell empfundenen Häßlichkeit von Hannover. Auch dieses mal räumte Cornelius Pollmer wieder ab und gewann einen Ausflug zur deutschen Reporter Slam-Meisterschaft in Berlin. Für Begeisterung bei den Gästen sorgten auch die musikalischen Einlagen von Tilman Birr. Es moderierte Jochen Markett.
Welch ein wundervolles Gewusel erlebten wir im und rund um das Zentralwerk e.V. am Sonntag (25. September) zum Abschluss unseres Festivals! Bei dem von Maike Beier organisierten Kinderlesefest Literatur FETZT! vergnügten sich Eltern und Kinder von morgens um 10 bis abends um 17 Uhr. Ausverkauft war der Illustrationsworkshop mit der französischen Künstlerin Isabel Pin, dessen Ergebnisse später im Großen Saal präsentiert wurden. Der Schauspieler Thomas Eisen las Märchen, die Filmemacherin Britt Dunse zeigte ihre Märchenfilme in Deutscher Gebärdensprache. Größter Publikumsmagnet war wie erwartet Ralph Caspers mit seinem „Milla und die sehr gefräßige Schule“. Weitere Lesungen kamen von Linda Schwalbe („Ida und die Welt hinterm Kaiserzipf“), Kirsten Reinhardt („Elvis Gursinski und der Grabstein ohne Namen“) und Silke Lambeck („Mein Freund Otto, das wilde Leben und ich“). Während des ganzen Tages schickte der „Book-Cache“ die Kinder auf eine literarische Schatzsuche, Pizza Syndikat und den PauPau Eiswagen sorgten für die leckere Versorgung. Unserer Familiensonntag erwies sich als großer Erfolg – und wird im kommenden Jahr sicher wieder stattfinden. Denn nur wenn schon früh gelesen wird, kann die Begeisterung fürs Buch weitergegeben werden.
Was bleibt von diesem Festivaljahrgang? Vor allem die erneute Bestätigung, dass es viele motivierte Menschen braucht, um so ein Festival zu erdenken und umzusetzen. Wir haben das Glück, einen Satz davon als Team zu haben, hier die elf Leute, die im Kern das Festival sind (und ein schreibender DJ als Inspiration unseres Vereins). Tausend Dank an jeden von euch, ihr habt gerackt und gerockt!
Drum herum gab es noch viele andere unermüdliche Helfer*innen, hier vor allem zu erwähnen unser Team Technik: Matti und Andreas vom Zentralwerk e.V., Bernd am Licht, das Bar-Team Jonas, Pia, Roswitha, Christian P. und das ganze Zentralwerk – schön, dass ihr so zahlreich zu den Veranstaltungen erschienen seid. Danke auch an unseren Festivalfotografen Peter R. Fischer, der fast immer und überall mit seiner Kamera dabei war.
Fotos dieses Rückblicks: Eröffnung Reinhard Spunkner, alle anderen Peter R. Fischer. Die Urheberrechte sind geschützt!